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hille2010
Wolfhard Schlosser

Unter dem etwas provokanten Titel „Hille 2010“ statt „Ruhr 2010“ soll der Frage nachgegangen werden, warum die Ruhr überhaupt ‚Ruhr’ heißt. Wie viele andere Flüsse auch speist sich die Ruhr in ihrem Quellgebiet aus einer Vielzahl von kleinen Gewässern. Unter diesen ist die Ruhrquelle am Ruhrkopf weder der schüttungsstärkste noch der am weitesten von der Ruhrmündung entfernte Zubringer. Schüttungsstärke und Entfernung sind aber meist diejenigen Kriterien für die Übertragung des Namens auf den gesamten Fluss.

 

Weiter entfernt als die Ruhrquelle von ihrer Einmündung in den Rhein entspringt die Hille, die auch eine größere Schüttung zeigt (Abb. 1). Auch das Flüsschen mit dem seltsamen Namen ‚Namenlose“ wäre ein Kandidat, durchfließt doch ihr Wasser bis zum Rhein eine etwas längere Strecke als das der Ruhrquelle. Warum also ‚Ruhrgebiet’ oder ‚Ruhr-Universität Bochum’ und nicht ‚Hille-Gebiet’ oder ‚Namenlose Universität Bochum’?


Vergleich der Schüttungsstärken von Ruhr und Hille
Abb. 1

Vergleich der Schüttungsstärken von Ruhr und Hille


Der Mensch bezieht oft himmlische Erscheinungen in die ihn umgebende Landschaft ein. So entstehen Bergnamen wie ‚Elferkogel’ oder ‚Wendelstein’, weil – von einem gegebenen Ort aus betrachtet – die Sonne eben um elf Uhr vormittags über diesem Berg steht oder jener eine der Sonnenwenden markiert. Ein ähnliches Szenario kann man vom Ruhrkopf aus beobachten. Von diesem Ort aus gesehen versinkt die Sonne zu den Wenden hinter zwei der markantesten Berge des Rothaargebirges, nämlich dem Kahlen Asten und der Nordhelle (Abb. 2). Und genau dies zeichnet den Ruhrkopf etwa vor der Hillequelle aus. Von ihrem Quellgebiet ist  Vergleichbares nicht zu beobachten.


Sonnenuntergang (gelbe Linie) vom Ruhrkopf aus über dem Kahlen Asten zur Wintersonnenwende und der Nordhelle zur Sommersonnenwende für die Zeit um Christi Geburt
Abb. 2

Sonnenuntergang (gelbe Linie) vom Ruhrkopf aus über dem Kahlen Asten zur Wintersonnenwende und der Nordhelle zur Sommersonnenwende für die Zeit um Christi Geburt

 

Sonnenuntergang (gelbe Linie) zu den Sonnenwenden über den beiden markantesten Bergen der Insel Rheneia, gesehen vom höchsten Punkt der Insel Delos für 1100 v. Chr. (Choulakas: Wintersonnenwende, Berg Rheneia: Sommersonnenwende)
Abb. 3

Sonnenuntergang (gelbe Linie) zu den Sonnenwenden über den beiden markantesten Bergen der Insel Rheneia, gesehen vom höchsten Punkt der Insel Delos für 1100 v. Chr. (Choulakas: Wintersonnenwende, Berg Rheneia: Sommersonnenwende)


Derartige Berg-Sonnen-Bezüge sind in der europäischen Vorgeschichte nichts Ungewöhnliches. Ein prominentes Beispiel bietet Delos, ein karges Ägäis-Inselchen von nur 3,6 qkm Fläche in der Nähe der bekannten Ferieninsel Mykonos. Trotz seiner geringen Größe ist es übersät mit Tempeln und ein Anziehungspunkt für Touristen. Delos war der griechischen Mythologie zufolge der Geburtsort von gleich zwei Göttern, nämlich des Apoll und der Artemis. Die Insel wurde weit über den griechischen Kulturraum hinaus verehrt. Der Geschichtsschreiber Herodot [1] berichtet über Gesandtschaften und Opfergaben von jenseits der damals den Griechen bekannten Welt. Während der Perserkriege opferte sogar der persische General Datis auf Delos und ließ ihre Einwohner ungeschoren, obwohl er sonst alles Griechische auf seinem Kriegszug in Schutt und Asche legte.

 

Jahrhunderte vor Herodot erwähnt Homer [2] eine astronomische Erscheinung, die diese Insel auszeichne. Über ihr wende sich nämlich die Sonne zweifach. An und für sich ist dies eine astronomische Unmöglichkeit, denn Delos liegt außerhalb der Wendekreise. Besteigt man je-doch den Berg Kynthos, den höchsten Punkt der Insel, so markieren in der Tat auf der westlich gelegenen Nachbarinsel Rheneia die beiden Berge Choulakas und Rheneia die Untergangspositionen der Sonne zu den beiden Wenden (Abb. 3). Das entspricht durchaus der Situation am Ruhrkopf (Abb. 2).

 

Da man weder Berge versetzen noch Inseln verschieben kann, muss man sich auf die Suche machen, bis die astronomisch-geografische Situation zusammenpasst. Entsprechend wird dann die Wertigkeit des Ortes festgelegt (Ruhrquelle, Tempelinsel Delos). Diese Vorgehensweise bezeichnet man als ‚Domestikation der Landschaft’ [3].

 

Literatur

[1]  Herodot: Historien (Hrsg. J. Feix). Artemis, München 1988

[2]  Homer: Odyssee (Hrsg. W. Schadewaldt). Rowohlt, Hamburg 1984

[3]  D. Sondermann: Ruhrsagen. Henselowsky Boschmann, Bottrop 2005





Sagen – ein kollektives Gedächtnis über die Jahrtausende?


Wolfhard Schlosser


Sagen beschreiben häufig ein reales Geschehen der Vergangenheit. Kann man die Sage lokalisieren, so führt dies vereinzelt zu erstaunlichen Ergebnissen. Hierzu zwei prominente Beispiele.

 

Nicht weit entfernt vom Kamener Autobahnkreuz liegt das Römerlager Oberaden. Es wurde um Christi Geburt angelegt und muß mit einer Fläche von mehr als einem halben Quadratkilometer eine beeindruckende Anlage gewesen sein. Der Pastor und Heimatforscher Otto Prein fand die ersten Spuren dieser römischen Befestigung im Jahre 1905. Eine große Rolle bei der Wiederentdeckung spielte eine lokale Goldfeuersage, die fast zweitausend Jahre die Erinnerung an diesen Ort wachhielt.

 

Zwei Kilometer südwestlich des Ortskerns von Seddin im Landkreis Prignitz (Bundesland Brandenburg) befindet sich das sogenannte Königsgrab von Seddin. Dieses Hügelgrab aus der jüngeren Bronzezeit – etwa dreitausend Jahre alt – ist mit 150 Metern Durchmesser und immer noch acht Metern Höhe eines der größten seiner Art.

 

In der Umgebung erzählte man sich über Generationen hinweg, daß in diesem Hügel ein König namens Hinz begraben sei, der in einem dreifachen Sarg aus Gold, Silber und Kupfer ruhe. Grabungen im späten 19. Jahrhundert förderten in der Tat Gegenstände aus der Bronzezeit zutage. Schließlich fand man auch die eigentliche Grabkammer, in der sich drei Urnen unterschiedlicher Qualität befanden. Die wertvollste enthielt den Leichenbrand eines Mannes, die beiden anderen den zweier Frauen. Farbspuren an den Wänden ließen erkennen, daß die Grabkammer innen mit rot-weißen Mustern geschmückt war.

 

Dieser Fall zeigt, daß sich in der Bevölkerung über dreitausend Jahre die Erinnerung an das Begräbnis eines Fürsten der Bronzezeit gehalten hat. Interessant ist aber auch, in welchen Punkten sich die Sage vom König Hinz von den Grabungsergebnissen unterscheidet. Zunächst einmal war in der Bronzezeit die Leichenverbrennung üblich und keine Sargbestattung. Der dreifache Sarg einer einzelnen Person erweist sich als ein Ensemble von drei Urnen verschiedener Menschen. Statt in ‚Gold, Silber und Kupfer’ ruhten die Toten schließlich in deutlich schlichteren Behältnissen aus Bronze und Ton.

 

Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Sage gegenüber den archäologischen Funden und Befunden ausschmückt (Gold, Silber und Kupfer), verdichtet (auf die Hauptperson, nämlich den König) und sich den Gebräuchen der Zeit anpaßt (Sarg statt Leichenbrand).          

 

Ein ähnliches ‚kollektives Gedächtnis’ an herausragende Geschehnisse der Vorzeit läßt sich möglicherweise auch für Bochum feststellen. Abb. 1 zeigt die Verteilung archäologischer Funde im Stadtgebiet (ohne Wattenscheid), und zwar die Kleinfunde (Kreuze) sowie die drei großen Bochumer Bodendenkmäler. Dabei handelt es sich um den Rest einer großen Ellipse (1953 entdeckt bei der Anlage der Katholikentagssiedlung, Ellipsensymbol), den Bochumer Kreisgraben (1966 entdeckt, Kreissymbol) sowie den Rest einer rechteckigen Struktur (Quadrat), die beim Bau der Autobahn A43 in den Jahren 1969-71 zutage kam. Nun sind derartige Erdwerke, die ja immerhin einige zehn bis hundert Meter groß sind, in Europa nicht unbekannt. So gibt es ein elliptisches Bodendenkmal in Bayern und ein rechteckiges in Tschechien. Es ist aber schon ungewöhnlich, daß in Bochum Kreis, Ellipse und Rechteck nur einen guten Kilometer auseinanderliegen.

 

Es fällt auf, daß die Kleinfunde wie auch die großen Bodendenkmäler eher im nördlichen Stadtgebiet liegen. Nimmt man nun das Bochumer Sagenbuch von Dirk Sondermann zur Hand und überprüft, an welchen Orten die dort aufgeführten Sagen mit ‚archaischem Charakter’ spielen – also solche, die beispielsweise von Werwölfen und dergleichen handeln –, so ergibt sich eine verblüffende Übereinstimmung. Auch diese treten gehäuft im nördlichen Stadtgebiet auf (Abb. 2). Die Parallelität ‚Archaische Sagen – Prähistorische Funde’ wird besonders deutlich, wenn man die Verteilung ‚moderner Sagen’ betrachtet, also solche mit christlichem Hintergrund oder mit Bezug auf Personen der Geschichte (Abb. 3). Hier ist das Stadtgebiet recht gleichförmig belegt. Eine auffällige Häufung zeigt sich nicht und schon gar nicht eine Verteilung ähnlich der der archäologischen Funde.

 

Unter den drei Bodendenkmälern ist sicher der Kreisgraben von Bochum-Harpen besonders bemerkenswert. Er wurde vor rund 7000 Jahren angelegt, etwa gleichzeitig mit hunderten vergleichbaren Anlagen in Europa. Der Bochumer Kreisgraben ist der westlichste bekannte seiner Art in Kontinentaleuropa. Noch westlicher liegt ein Kreisgraben in Südengland. Er ist deswegen bemerkenswert, weil sich in dessen Mitte die berühmte Steinsetzung von Stonehenge befindet.

 

Die Forschung ist sich heute weitgehend einig, daß die Kreisgrabenanlagen vornehmlich rituell genutzt wurden, also nicht profanen Zwecken wie etwa als Viehpferch oder Befestigungsanlage dienten. Diesem rituellen Bezug entspricht durchaus, daß noch heute das in seiner unmittelbaren Nähe gelegene Bockholt einen zentralen Punkt des Bochumer Maiabendfestes darstellt. Offensichtlich liegt der Grund zu diesem Bochumer Stadtfest tiefer als die ihm üblicherweise zugeschriebene Verbindung zu einer mittelalterlichen Auseinandersetzung zwischen Bochumern und Dortmundern um ein paar Kühe. Die Feier des ausgehenden April/beginnenden Mai ist ein alteuropäischer Brauch. In Deutschland ist es die Walpurgisnacht (30. April/1. Mai), im Baltikum der Tag des hl. Georg (23. April). In Irland heißt die Frühlingsfeier Anfang Mai ‚Beltaine’, was auch als wissenschaftliche Bezeichnung für dieses Fest übernommen wurde. Nun sind die Jahreszeiten und damit die mit ihnen verbundenen Feste an den Sonnenlauf gekoppelt. In diesem Zusammenhang ist auffällig, daß eine der Erdbrücken des Bochumer Kreisgrabens zum Sonnenaufgang Anfang Mai weist – eine kalendarische Funktion dieses Erdwerks, die europaweit auch bei anderen Kreisgräben zu beobachten ist.

 

Zwei weitere Argumente sprechen für das hohe Alter des Bochumer Brauches. Zum ersten mußte der Eichbaum von den Bochumern ohne Pferde oder andere Zugtiere eingeholt werden, was bei einem mittelalterlichen Ursprung ungewöhnlich wäre. Zum anderen wurde bei dem Transport die Sonne angerufen (‚Sunne, Sunne, de Maibaum ist usse’). Das erinnert ebenfalls eher an eine rituell-kalendarische Bedeutung als an einen Viehdiebstahl.

 

Literatur

A. Bornholdt: 600 Jahre Bochumer Maiabendfest. Bochumer Maiabendgesellschaft, Bochum 1988

K. Günther: Die Abschlußuntersuchung am neolithischen Grabenring von Bochum-Harpen.

Archäologisches Korrespondenzblatt 3, 1973

D. Sondermann: Bochumer Sagenbuch. Pomp Verlag, Essen 2003

D. Sondermann: Ruhrsagen. Henselowsky Boschmann, Bottrop 2005


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